Es ist so weit: Die Weihnachtsmärkte stehen offen, Mariah Carey ist wieder aufgetaut und mit etwas Glück liegt demnächst auch das ein oder andere Buch unterm Tannenbaum. 🎄 Da ergibt sich natürlich die Frage nach der richtigen, zu verschenkenden Lektüre – und in diesem Sinne haben wir mal wieder fünf Bücher für euch kuratiert, die diesen Winter nicht fehlen dürfen. 😉
Supremacy: AI, ChatGPT, and the Race that Will Change the World by Parmy Olson
ChatGPT und vergleichbare LLM’s sind die womöglich definierende Erfindung unserer Zeit. Eine KI, fortschrittlich genug, sie scheint häufig hilfreicher – vielleicht sogar menschlicher – als mancher Kundenservice und dienlicher als die allgemeine Google-Suche. Diese Form künstlicher Intelligenz ist für viele nicht nur Teil unseres Alltags geworden, sondern auch Grund zur Sorge: Wohin die Reise geht, weiß niemand so genau, nicht zuletzt wegen des wenig transparenten Algorithmus dieser. Feststeht allerdings, dass Deep Learning längst nicht an seinem Zenit angelangt ist. Claude, ChatGPT, PalM und Co. lernen jeden Tag beständig weiter, werden dieses kleine bisschen besser und sitzen miteinander im metaphorischen Klassenzimmer im Kampf um die beste Note.
Eine abzusehende Rivalität, wie Parmy Olson zeigt, denn neu ist diese keineswegs. Supremacy erzählt die Geschichte des Zweikampfs, welchen OpenAI und DeepMind sich in der KI-Arena gaben und geben, auf dem Weg, heutige LLM’s in den Mainstream zu befördern. Olson selbst bewahrt hierbei eine konstante kritische Distanz: Das hier ist keine Siegesgeschichte oder Eloge zu den respektiven Errungenschaften der Kontrahenten, es ist genauso eine Mahnung zur riskanten Konsequenz eines Tech-Monopols, welches hierbei entstehen könnte. Zu einer der mächtigsten Inventionen unserer Zeit – und obendrein einer, die sich schwerlich kontrollieren lässt.
Olson macht mit Supremacy insbesondere einen Punkt klar: Dass KI nicht nur die technologische Wunderassistenz der Menschheit ist, sondern auch ein Business im Wettrennen. Eine wichtige Gegenposition bei allem Respekt, welcher der KI gebührt, insofern wir kollektiv die Vorteile dieser Technologie bestmöglich nutzen möchten.
Vanishing Treasures: A Bestiary of Extraordinary Endangered Creatures by Katherine Rundell
Seepferdchen sind Lebenspartner und tanzen jeden Morgen miteinander, der amerikanische Waldfrosch überlebt den Winter, indem er sich selbst einfriert und Lemure sind die Amazonen des Wildlebens, miteinander in matriarchaler Ordnung und angeführt von einem Alpha-Weibchen. Unser Planet ist übersät mit extraordinären Organismen, welche sich auf vielfältigste Art und Weise auf die hiesigen Konditionen eingestellt haben.
Katherine Rundell bietet uns in Vanishing Treasures ein kompaktes Bestiarium zu einigen der erstaunlichsten Lebewesen, welche die Erde bevölkern. Das hier ist ganz offensichtlich ein Text aus Leidenschaft. Rundell zeigt mehr als ihr eigenes Mitgefühl für die verschiedenen Tiere, sie kultiviert dasselbe Maß bei den jeweiligen Leser:innen – denn leider ist jede vorgestellte Spezies genauso vorm Aussterben bedroht. Vanishing Creatures ist somit ein Appell, der uns nicht nur genehmigt, sich etwas in die vorgestellten Tiere zu verlieben. Er zeigt uns genauso die Fragilität dieser Lebewesen, welche bei aller Anpassungsfähigkeit vom Menschen und Klimawandel überholt werden. Ein wichtiges Anliegen.
Wir leben bekanntlich in turbulenten Zeiten. Den hieraus entstehenden Weltschmerz, kann man schwerlich verübeln. Rundell schafft es mit Vanishing Treasures dementsprechend zwei schöne Wahrheiten in einem Streich aufzudecken, welche wir hierbei allzu gerne vergessen: Dass die Welt nichtsdestoweniger ein wirklich erstaunlicher Ort ist und der Mensch nur eine von vielen Kreaturen, die auf ihrem Boden fußt. Der Clou ist lediglich, hierfür auch Verantwortung zu übernehmen.
Lucky Loser: How Donald Trump Squandered His Father's Fortune and Created the Illusion of Success by Russ Buettner, Susanne Craig
Wir verstehen es ja: Gerne diskutiert man Donald Trump eigentlich nicht, aber als eine der wichtigsten Figuren unserer Zeit muss man es dann irgendwie doch. Insbesondere aktuell.
Einen der besten Beiträge zum Thema schrieben wohl David Barstow, Susanne Craig und Russ Buettner, in dem die Investigativjournalist:innen für die New York Times die Finanzhistorie des kommenden Präsidenten aufdeckten. Ein Beitrag gut genug, dass diese mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurden und eben dieses Thema nun detailliert zu Papier brachten.
Lucky Loser dekuvriert nicht nur das von Trump aufgestellte Narrativ des hartarbeitenden Business-Mannes, welcher es laut eigener Aussage wirklich nicht leicht hatte – samt der Lügenbehauptung, man hätte mit dem wenigen Geld des Vaters ein Multimillionen-Business aufgebaut. Es zeigt vor allem eins: Dass Trump häufig zwar mehr Glück als Verstand hatte, jedoch genauso wusste, dieses in ein Image umzudichten, das ihn nun zum zweiten Mal ins Weiße Haus manövrierte. Eine aufwändige Recherche, die über 20 Jahre abdeckt und den Aufstieg und Fall und Aufstieg und Fall und letztendlichen Aufstieg von Donald Trump illustriert. Ein wichtiger Text für unser aktuelles Zeitgeschehen.
Tolle Lektüre für die obligatorische Politikdiskussion an Weihnachten, übrigens – wird lustig.
Elite Capture: How the Powerful Took Over Identity Politics by Olúfẹ́mi O. Táíwò
Identitätspolitik – also politisches Handeln basierend auf Zugehörigkeiten in puncto Ethnie, Sozialstatus, Sexualität, Nationalität und dergleichen – ist ein wichtiges Anliegen unserer Zeit. In der Schule, am Arbeitsplatz, online und im öffentlichen Diskurs – als Gesellschaft sind wir vielerorts bemüht, eine erhöhte Sensibilisierung für diverse Lebenserfahrungen anzunehmen. In der Konsequenz bedeutet das leider genauso, dass Identitätspolitik zum Buzzword verkommt. Und zwar eines, welches häufig unter einem gewissen Maß an Virtue Signaling – die Zurschaustellung moralisch positiver Werte, ohne diese notwendig auszuleben – instrumentalisiert wird, auch um kollektive Interessen zu marginalisieren.
Elite Capture tätigt zum einen ein Argument dazu, inwieweit der Begriff der Identitätspolitik sich von seinen Wurzeln vom Black feminist Combahee River Collective entfremdete und zum anderen, dass der Begriff der Identitätspolitik dennoch nicht das Problem in Frage ist. Tatsächliche Differenzen überkäme man nicht mit Aufmerksamkeit und Repräsentation, wenn diese auch ihren Nutzen haben, sondern mit einer kritischen Umverteilung von sozialen Machtgefügen und Ressourcen. Auch das ist eine individuelle Verantwortung und notwendig, um simple Binäritäten zu überwinden.
Ein zwar recht akademischer, jedoch inspirierender Text zu einer der tangierenden Fragestellungen unserer Zeit.
The Remains of the Day von Kazuo Ishiguro
Der Dezember ist bekanntlich mehr als die schöne Weihnachtszeit, welche diesen begleitet. Er markiert das Ende des Jahres, den Silvesterabend – den Abschluss aller Erlebnisse der letzten 365 Tage. Genau hierfür hat Kazuo Ishiguro vielleicht das optimale Buch verfasst.
Sein ganzes Leben verbrachte Stevens als Butler in Darlington Hall. Eine Existenz im Dienst, was anderes ist ihm nicht vertraut – und der Urlaub, den er 1956 unternimmt, um eine alte Arbeitskollegin zu besuchen, ist ihm somit ein Novum. Auf seiner Reise findet der höchstloyale Butler das erste Mal Gelegenheit, sein eigenes Leben in der Retrospektive zu betrachten – und somit erfolgt nicht nur eine Meditation über alles bisherig Geschehene, sondern auch die wenigen Jahre, welche ihm noch blühen werden; The Remains of the Day.
Selbstreflexion ist ein Prozess in Fraktalen: dieselbe Sache in verschiedenen Maßeinheiten. Ein Stein ist beispielsweise lediglich ein kleiner Berg. Ob wir nun, wie Butler Stevens, unser Leben Revue passieren lassen, am Silvesterabend das vergangene Jahr oder doch nur die Geschehnisse des Tages – der Prozess bleibt derselbe. Wie Ishiguro es so schön fasst:
“The evening's the best part of the day. You've done your day's work. Now you can put your feet up and enjoy it.”
Darin steckt etwas grundlegend Humanes: Selbstreflexion ist eine Vergegenwärtigung unseres aktuellen Standes, wie weit wir mit der Zeit doch gekommen sind und die kalkulierten Risiken, welche uns künftig erwarten. The Remains of the Day ist somit mehr als ein Abschluss, es ist gleichermaßen die Einladung, für einen kurzen Moment den eigenen Kopf zu verlassen, sich selbst als fremd zu betrachten und auf das eigene Schaffen zu blicken. Sich Raum zu geben, um auch mal stolz zu sein. Mit diesem Wunsch entlassen wir euch bereits gerne in das nächste Jahr, wo wir uns sicherlich wiedersehen.
In diesem Sinne: Genießt die Feiertage und ein paar ruhige Stunden mit einem guten Buch. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen. 😊