Book Review - „Move - das Zeitalter der Migration" von Parag Khanna

Move hat uns vollkommen überwältig, vielleicht sogar überrannt. Ein Buch, das mit Bewegung geschrieben ist. Zahlreiche Gedankengänge, massenhaft Informationen, unzählige lose Fäden. Das hat vielfältige Emotionen in uns ausgelöst. Das ein oder andere Mal mussten wir das Buch aus der Hand legen und tief durchatmen, Abstand gewinnen und neu ansetzen. Move von Parag Khanna hat uns definitiv bewegt, wir sehen nicht nur den Begriff Mobilität jetzt mit anderen Augen.

Darum geht es

Parag Khanna, indisch-amerikanischer Politikwissenschaftler und Gründer von FutureMap, bezeichnet sich selbst als Weltreisender, der Migration als Chance für unsere Gesellschaft sieht. Die Menschen werden sich in den nächsten Jahrzehnten weltweit bewegen und neu verteilen müssen, als Folge des Klimawandels und anderer Veränderungen unserer Zeit. Seine Grundannahme, die Basis für das Buch Move ist. Khanna arbeitet mit Zahlen, Fakten und Beispielen, um zu verdeutlichen, was es heißt, sich im Zeitalter der Migration zu befinden und zeichnet verschiedene Zukunftsszenarien.

Dabei greift er zahlreiche Themen auf – zum einen die, die bereits heute Einfluss auf die Entwicklung unserer Gesellschaft haben und zum anderen jene, die erst in Zukunft wirken. Die Auswirkungen des Klimawandels, die Verjüngung aufstrebender Länder auf der einen Seite und die Überalterung von Industrienationen auf der anderen Seite, die zunehmende Geschwindigkeit der Veränderung – auch durch neue Technologien – und viele weitere Gründe sieht Khanna dafür, dass Migration das Schicksal der Menschheit sein wird.

Ideen, die die Welt (auch uns) bewegen

Darüber hinaus liefert Khanna Inspiration und Futter für Diskussionen, die nicht an einem Abend – auch nicht mit 2 Flaschen Rotwein – beendet sind. Er wirft neue Ideen, Ansätze und Konzepte in den Raum, die Gehirnschmalz fordern, aber echte Perspektiven aufzeigen. Beispiele aus dem Buch:

  • Breite Auffassung des Wehrdienstes im Sinne einer einjährigen Dienstpflicht für Männer und Frauen, um einen „notwendigen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt und zur nationalen Identität zu leisten“.
  • Digitale Bildungsplattformen als universale Gleichmacher, die es jungen Leuten gestatten „ohne Schulden direkt in den Arbeitsmarkt einzusteigen“.
  • Wachstum und Innovation nicht als Selbstzweck zu betrachten, sondern uns zu „fragen, welchen Zweck sie erfüllen“, um die Zukunft zu gestalten.
  • Junge Menschen sollten aufhören, „sich an Immobilien zu ketten, die sie weder brauchen noch sich leisten können – und die nicht dort sind, wo sie gebraucht werden“ sondern stattdessen „für ein Zeitalter ständiger Mobilität [zu] planen und [zu] bauen.“
  • Effektive Strategien gegen Klimaveränderung und konkrete Lösungen über Bautechnologien (z.B. wasserdurchlässiger Asphalt in Überschwemmungsgebieten, thermoelektrische Kühl- und Heizsysteme) oder Mobilitätskonzepte (z.B. mit erneuerbaren Energien angetriebene Fahrzeuge, Autos aus dem 3D-Drucker aus recycelten Metalllegierungen oder Zellulosefaser) um eine nächste große Völkerwanderung nicht anzuheizen.
  • „Nation Building“-Projekte im arabischen Raum, um „seine Jugend zum Nutzen der Gesellschaft“ zu beschäftigen.

An einigen Stellen im Buch tauchen Grafiken auf, die nicht selbsterklärend sind, Aussagen, die unbedacht erscheinen oder sogar Fakten, die nicht ausreichend validiert sind und damit kontroverse Diskussionen bei uns im Team ausgelöst haben. Wo versteckt sich die Quelle oder der Übersetzungsfehler für: „Die Lebenserwartung der [in Japan] geborenen Menschen liegt inzwischen bei 107 Jahren“? Aussagen wie: „Doch Menschenströme [folgen] […] kulturellen Vorlieben […]“ klingt, als kämen flüchtende Südamerikaner*innen für Big Macs und Country Musik in die USA. „Sich bewegen heißt frei sein“ gilt vielleicht für diejenigen, die die Wahl haben, nicht aber die, die flüchten müssen. Und Aussagen wie: „Geopolitisch gesehen wird die Welt […] immer gelber, doch demographisch betrachtet wird sie fraglos

braun“ finden wir in Bezug auf Hautfarben gänzlich unpassend.

Doch auch wenn nicht alle Aussagen direkt wissenschaftlich prüfbar oder auf Deutschland übertragbar, der Grundtenor des Buches sowie die darin enthaltenen Ideen bewegen.

Warum das Buch ambivalente Gefühle weckt und warum es genau das tun sollte

Move hat in uns viele Emotionen ausgelöst. Von Verärgerung über Begeisterung zu Unverständnis bis hin zu Dankbarkeit war alles dabei. Doch Wut ist laut Brené Brown nur eine „secondary emotion“ (Atlas of the Heart, S. 220) und damit stets Indikator für dahinterliegende Gefühle, die schwerer zu bezeichnen sind.

Quelle: WholeHearted School Counseling
Quelle: WholeHearted School Counseling

Das Buch hat also auch ein Gefühlschaos hervorgerufen, weil...

…es Unruhe in uns darüber auslöst, wie die Zukunft aussehen wird und ob wir genug dafür tun, diese aktiv zu gestalten.

…es uns Angst macht, nicht zu wissen, wo unser Platz zukünftig sein wird, wie sich das Gefühl von Sicherheit und Zuhause verändern wird und welche Entscheidungen wir heute treffen müssen, um auf morgen vorbereitet zu sein.

…es durch die zahlreichen anspruchsvollen Informationen verstreut auf, aus unserer Sicht, unzureichend strukturierte Kapitel verwirrt. Dabei weckt es gleichzeitig unseren Wunsch jeden Aspekt darin zu verstehen und allen Mitmenschen zugänglich zu machen, weil die Themen so dermaßen aufrüttelnd und wichtig sind.

…es uns schuldig fühlen lässt für die privilegierte Position, in der wir sind und die veralteten Denkmuster, die jede:r von uns mit Erschrecken bei sich selbst entdeckt.

...es deutlich macht, dass alles in Bewegung ist und Resilienz allein nicht ausreichen wird, um mit den unplanbaren Veränderungen, die uns bevorstehen, umgehen zu können.

…es uns aufzeigt, wie ungerecht die Welt ist und wie ohnmächtig wir uns teilweise dagegen fühlen.

...es Fragen aufwirft, die wir nicht beantworten können und uns vielleicht vorher auch noch nie gestellt haben.

Es kommen Fragen auf

Beim Lesen des Buchs haben wir uns viele Fragen gestellt, die uns auch jetzt noch beschäftigen. Khanna greift Ressourcenknappheit an vielen Stellen als einen Grund für Migration auf. Dabei haben wir uns gefragt: Wie kann die Gesellschaft es schaffen, Ressourcen gleichberechtigt zugänglich zu machen?

Das Buch hat uns auch aufgezeigt, dass wir uns, bedingt durch unterschiedlichste Faktoren, in Gedankengefängnissen befinden. Wie sind diese Mauern entstanden? Wie können wir sie einreißen? Gleichzeitig stellt auch Khanna Fragen, die wir bis heute diskutieren. In Bezug auf Bevölkerungsrückgang fragt er: „Wer wird noch essen gehen und all die schönen Dinge kaufen, die in den Geschäften ausliegen?“ während wir denken: Ist das wirklich ein Grund, weiter als Weltgesellschaft wachsen zu müssen? Wie sieht eine Alternative mit mehr Platz für Natur, weniger Menschen, weniger Produktion und weniger Konsum aus?

Letztlich verbleibt eine Frage: Ist in der deutschen Version vielleicht an manchen Stellen die Ironie in der direkten Übersetzung verloren gegangen?

Würden wir das Buch noch einmal lesen?

Unbedingt! Move enthält enorm viele Aspekte, die wir unmöglich beim ersten Lesen erfassen konnten. Es ist fast wie mit einem Wimmelbuch: Man liest eine Seite mehrmals und entdeckt immer wieder etwas Neues.

Zitate aus dem Buch, die uns bewegen

  • “Du interessiert dich vielleicht nicht für die Migration, aber die Migration interessiert sich für dich.”
  • “Multiple Identitäten zu haben, wird zur genetischen Norm.”
  • “Die meisten Menschen müssen, wenn sie edle Inspiration suchen, über die eigenen Staatsgrenzen blicken, und die besten globalen Staatsbürger unternehmen heldenhafte Anstrengungen, um danach zu handeln.”
  • „[…] Sich selbst finden [heißt] nicht, nach Hause zu gehen, sondern sich zu Hause zu fühlen.”

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