Unsere Reading List für den Herbst 2024

November 4, 2024

Erste Kürbisse mit Schnitzmotiv stehen vor den Haustüren, der Asphalt kleidet sich in Laub und das eigene Teesortiment erweitert sich aus ganz unerfindlichen Gründen. Das kann nur eins bedeuten: Der Herbst ist hier! 🎃🍂 Ohne die richtige Lektüre, können wir euch in die Jahreszeit der Bücherwürmer natürlich nicht entlassen und haben auch dieses Jahr wieder die richtige Leseliste für euch zusammengestellt. 😉 Wir wünschen viel Spaß beim Stöbern! 📚

Yuval Noah Harari: Nexus
– A Brief History of Information Networks from the Stone Age to AI

Spätestens seit Sapiens, ist Yuval Noah Harari einer der wichtigsten Intellektuellen der Öffentlichkeit unserer Zeit – und wenn dieser sich somit zu Wort meldet, findet das Gehör. Vielleicht eröffnen wir dementsprechend mit einer beinahe offensichtlichen Empfehlung, doch schmälert das weder den Denkanstoß, den Harari in seinem neuesten Buch Nexus zutage bringt, noch die zeitgenössische Relevanz hiervon.

Ganz der Historiker, reflektiert Harari den aktuellen Kipppunkt unserer heutigen Welt anhand einer voranstellenden Feststellung über die menschliche Geschichte selbst: Binnen der letzten 100.000 Jahre, haben wir als Menschheit einen erstaunlichen Machteinfluss über unsere Umgebung kultiviert. Fortschritt, der nicht zuletzt auf verschiedene Methoden des Informationsflusses zurückzuführen ist, welche wir mit der Zeit erfunden haben – von der Steinzeit hin zur KI-Revolution, die uns aktuell begleitet.  

Information nämlich, darin liegt der Schlüssel zur Machtgewinnung – und die Kontrolle über diesen Fluss entgleitet uns laut Harari immer mehr und mehr. Politiker:innen instrumentalisieren den Einsatz von Falschinformationen für ihre eigenen Kampagnen – Falschinformationen, welche das Internet gewollt ist für ein paar Klicks zu reproduzieren – und das fortgeschrittenste, maschinell-neuronale Netzwerk aller Zeiten halluziniert und absorbiert unsere Neigungen, ohne, dass der dahinterstehende Algorithmus Transparenz hierzu bieten kann. Information, sie ist ein zweischneidiges Schwert – und bei den Unmengen hiervon, die wir tagein, tagaus konsumieren, ist es vielleicht an der Zeit, auf Diät zu gehen.

Information ist somit nicht das Rohmaterial der Wahrheit, so Harari – eine bloße Waffe ist sie allerdings auch nicht. Wo liegt hierbei die Mitte? Nexus ist eine Suche nach der menschlichen Gemeinsamkeit im Auge des Sturms eines immer komplizierteren 21. Jahrhunderts.  


Jonathan Haidt: The Anxious Generation
– How the Great Rewiring of Childhood Caused an Epidemic of Mental Illness

Mentale Gesundheit ist mittlerweile ein zum Glück wichtiges und anerkanntes Thema, inner- und außerhalb des Arbeitsplatzes. Nichtsdestoweniger wurde in den 2010ern ein neues Tief festgestellt: Depressionen, Angststörungen und dergleichen haben sich bei Adoleszenten teils verdoppelt. Ein erschreckender Trend, aber woran liegt das?

In The Anxious Generation widmet sich Sozialpsychologe Jonathan Haidt genau dieser Problemstellung. Es wird ein Blick auf die Rolle der Kindheit in dieser Kausalität geworfen, die Wichtigkeit vom Spielen und Erkunden hierbei sowie deren Beitrag zum Übergang ins Erwachsensein. Aktivitäten, welche immer weniger präsent sind in modernen Kindheiten, nicht zuletzt wegen der übermäßigen Integration von Smartphones und ähnlichem. Die Technologie unserer Zeit spielt hierbei natürlich eine zentrale Rolle, auch in Gestalt von Social Media, wo Haidt etwa expliziert, inwieweit junge Frauen hiervon noch harscher betroffen sind.

Allen voran aber ist The Anxious Generation gewissermaßen ein Aufruf dazu, wie wir dieses kollektive Aktivitätsproblem lösen können. Vier Schritte stellt Haidt hierzu bereit und ermutigt dazu, Kindheiten vom Smartphone loszulösen und mehr Verständnis, jedoch auch Prävention zur mentalen Gesundheit künftiger Generationen zu kultivieren.

Kate Conger & Ryan Mac: Character Limit
– How Elon Musk Destroyed Twitter

Die öffentliche Meinung zu Elon Musk scheint sich mittlerweile in zwei dezidierte Lager aufzuteilen. Die einen halten fest am Image des Tech-Visionärs, welcher uns in die Zukunft oder auf den Mars tragen wird – ein Image, dass er in den frühen 2010ern noch emsig zu kultivieren versuchte – und die anderen sehen in Musk das wohl mächtigste Kleinkind der Welt. Wohl oder übel, eins lässt sich nicht abstreiten: Musk ist eine der relevantesten Figuren des 21. Jahrhunderts und insbesondere die Akquisition Twitters, welche sich vor ziemlich genau zwei Jahren abspielte, verbleibt als kontemporäres Phänomen und Spektakel: Einer der schlechtesten Deals, welchen das öffentliche Auge seit geraumer Zeit miterleben durfte, der Verfall einer bereits bröckelnden Reputation und natürlich der Schwanengesang eines sozialen Netzwerks, welches seit bereits vielen Jahren im Mainstream akzeptiert wurde. Ein bisschen was von einem Verkehrsunfall hatte das alles schon, wie man so unschön sagt: Hingucken wollte man eigentlich nicht, doch musste man trotzdem – und jetzt, wo Twitter, oder X, sich gerade so mit Beatmungsgerät am Leben hält, fragt man doch: Wie konnte es so weit eigentlich kommen?

Kate Conger und Ryan Mac – zwei Tech Reporter:innen der New York Times – haben sich in Character Limit genau diesem Faszinosum gewidmet und einen investigativen Blick auf die Geschehnisse geworfen, die Musks Übernahme der Plattform und ihren letztendlichen Identitätsverfall ermöglichten. Unter Hinzuziehung exklusiver Interviews – innerhalb des Unternehmens und nahe an diesem dran –, Offenlegung bislang unveröffentlichter Dokumente und mehr, stellt das Journalist:innenduo nicht nur ein professionelles, spekulatives Urteil zum Twitter Deal dar, sondern die wahrheitsgetreue, definitive Präsentation der Ereignisse. Ein für sich wichtiges Buch, dekuvriert es nämlich die Quintessenz der Erwerbsidee selbst: Wer kontrolliert das Narrativ – das Geld, die Reichweite oder doch das letztendliche Faktum?

Amanda Jones: That Librarian
– The Fight Against Book Banning in America

Es versteht sich sicherlich, dass Bücher uns eine Herzensangelegenheit sind – wir kuratieren diese Leselisten ja nicht nur, weil es Spaß macht. Dementsprechend können wir euch das Memoire von Amanda Jones, That Librarian, keineswegs vorenthalten. That Librarian ist nämlich weitaus mehr als die simple Nacherzählung eigener Lebensrealität, es ist insbesondere ein Manifest für und Appell an die Lesefreiheit, in einer Zeit, wo immer mehr Bücher auf schwarzen Listen zu landen scheinen. Insbesondere an Schulen.

Amanda Jones ist Bibliothekarin; Verantwortungstragende für eine von vielen literarischen Institutionen, welche Jung und Alt beiderlei tauglichen Zugriff auf Bildung, Kultur und Selbstfindung ermöglicht. Insbesondere Letzteres ist Jones ein Anliegen: dass Bücher junge Menschen befähigen, ihre eigene Identität zu ergründen und bestätigen, in einer Lebensphase, wo all das noch so fürchterlich verwirrend ist. Bücher zeigen uns nicht nur wer wir sind, sie zeigen genauso, wer wir sein können. Die Empörung, welche Jones demnach überkam, als verschiedenste amerikanische Schulen dazu aufgefordert wurden, diverse Bücher aus ihren Regalen zu entfernen, ist vollkommen nachvollziehbar. Diese Texte hätten nichts im schulischen Curriculum zu suchen, hieß es. LGBTQ+, Antirassistisches und was sonst noch zu woke sei, das alles wäre Gift oder Hirnwäsche einer politischen, antichristlichen Agenda, welche die amerikanische Jugend zu korrumpieren versuche. Forderungen, gegen welche Jones seither ankämpft.

That Librarian verkündet nicht nur die moralischen Prinzipien der Bibliothekarin – Basiswerte, die auf Äquität und Inklusion basieren –, es illustriert auch die Wichtigkeit des Ankämpfens gegen literarische Zensur und fordert auf, dies zu unterstützen. Ein Unterfangen, das selbstredend seine eigenen Risiken birgt. Jones macht kein Geheimnis aus den Diffamierungen, welche ihrem Aktivismus folgten: Morddrohungen, Angriffe und allgemeine Unterstellungen von Perversion, von Fremden und Freund:innen gleichermaßen. Davon unterkriegen lässt Jones sich nicht, wie dieses Memoire ganz wundervoll aufzeigt. Es ist die Proklamation keinerlei Buchzensur zu dulden, ganz gemäß dem Credo: "Books and ideas are the most effective weapons against intolerance and ignorance." ― Lyndon B. Johnson

Michail Bulgakov: Der Meister und Margarita

In die namentliche Spooky Season wollen wir euch natürlich nicht nur mit Sachbüchern entlassen! 👻Offensichtlich braucht es noch das richtige Material, um ein angemessenes Ambiente zur Schauerzeit zu schaffen und da haben wir in Form von Michail Bulgakows Der Meister und Margarita einen wahrhaften Klassiker für euch. 😊

Der Teufel kommt ins Moskau der Dreißiger – und mit ihm Gepäck die bunte Entourage eines der wohl makabersten Charaktergespanne, welche sich im Literaturkanon anfinden lassen. Hexen zieren den Nachthimmel Russlands, Vampire lamentieren lieber keine sein zu wollen, der Woland lädt zur Fete im Theater und eine sprechende, schwarze Katze mit Vorliebe für Schach und Vodka ist auch noch dabei.

Michail Bulgakows Der Meister und Margarita ist nicht nur eine kreative Tour de Force und Höchstleistung der fiktiven Literatur, es ist vor allem ein Appell an die Freiheit – ganz im Atemzug vom eben noch vorgestellten That Librarian, schreibt Bulgakow doch so schön: Manuskripte brennen nicht – und obendrein die vielleicht bizarrste Liebesgeschichte, welche einem unterkommen könnte. Ein absolut fantastisches Buch für den Herbst, dessen Reise zu immer neuen Überraschungen lädt. Und alles beginnt mit dem kleinen bisschen Chaos im Alltag, das bereits etwas verschüttetes Öl und eine Tram, die sich vielleicht lieber hätte verspäten sollen, verursachen können.

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