Digital Reset: Entwickeln Online-Plattformen sich zurück?

Früher, vor langer, langer Zeit, war alles besser – da lief Video On Demand noch werbefrei, blaue Verifizierungshäkchen musste man sich noch durch harte Arbeit im öffentlichen Auge verdienen und Videoportale dienten dem Credo „Broadcast Yourself“, statt getaktete Dauerwerbesendungen zu sein.

So oder so ähnlich könnte man sicherlich meckern, kann man aber (ganz ehrlich gesagt) auch einfach sein lassen. 😉 Spannend ist aber: Digitalmedien, Social Media und Online-Plattformen, welche als dienstleistende Zukunft der Unterhaltung und des Diskurses verschrien wurden, machen eine Kehrtwende. Der große egalitäre Gesellschaftsbasar namens Internet, von John Perry Barlow noch als „Home of Mind“ fantasiert (in seiner recht schlecht gealterten „A Declaration of the Independence of Cyberspace“), scheint zu seinen Wurzeln zu regressieren. Damit im Hinterkopf, fragt man sich, ob etwas sich dermaßen weiterentwickeln kann, dass es falsch abbiegt, sich im Kreis dreht und wieder am Anfang landet. Kehren Digital Spaces aktuell zu alter Form zurück? Lasst uns das mal diskutieren.

Der digitale Verfall

Aktuell macht sich nämlich eine gewisse Endzeitstimmung im digitalen Luxus breit, wie The Atlantic bereits bemerkte. Facebook stagniert weiterhin, Twitter (oder X) versucht seit der Übernahme von Musk sich verzweifelt am Leben zu halten – auch wir haben mit dem 55 Account X schon lange den Rücken gekehrt – und immer mehr Werbetreibende ziehen sich von verschiedenen Plattformen zurück.  Eine Krisensituation, welche nicht nur zu erheblichen finanziellen Verlusten führt, die im Umkehrschluss riesige Entlassungen bewerkstelligen, sondern auch Wellen schlägt: So müssen auch Online-Magazine, welche zu Covid noch florierten und bekanntlich in strikter Abhängigkeit zu etwaigen Plattformen stehen, sich die Frage stellen, ob sie auf einen Massenverfall digitaler Berichterstattung, wie der Print vor ihnen, vorbereitet sind, laut The New Yorker. Düster wie es klingen mag, eröffnet sich der plausible Gedanke, dass Social Media, wie wir es seit Jahren kennen, zu einem Ende kommen könnte.

Passend hierzu stellte Ian Bogost bereits fest:

A global broadcast network where anyone can say anything to anyone else as often as possible, and where such people have come to think they deserve such a capacity, or even that withholding it amounts to censorship or suppression—that’s just a terrible idea from the outset. And it’s a terrible idea that is entirely and completely bound up with the concept of social media itself: systems erected and used exclusively to deliver an endless stream of content.

Viele von uns sind sicherlich mit der sporadischen Genervtheit über dergleichen vertraut. Diesen graduellen Wertverlust bezeichnet  Cory Doctorow liebevoll als „Enshittification“. 💩

Here is how platforms die: first, they are good to their users; then they abuse their users to make things better for their business customers; finally, they abuse those business customers to claw back all the value for themselves. Then, they die.

„Enshittification“ soll laut Doctorow die unvermeidliche Folge des „zweiseitigen Marktes“ sein, bei dem eine Plattform zwischen Käufer:innen und Verkäufer:innen sitzt und beide als Geiseln des jeweils anderen hält, wobei sie einen immer größeren Anteil des Wertes, der zwischen ihnen vermittelt wird, abschöpft. Das Resultat ist ein Ort, an dem man weder als User:in, Unternehmen oder Werbetreibende:r gerne ist und plötzlich ist beispielsweise ein Shop in der Instagram App integriert, den eigentlich niemand nutzen möchte – denn dafür gibt es weitaus vertrauenswürdigere Shopping-Plattformen.

Auch wenn jeder Abschied traurig ist, ist dieses mutmaßliche Ende vielleicht die Gelegenheit einen besseren Cyberspace zu gestalten, näher am revolutionären Grundtonus, den Barlow 1996 noch anschlug. Doch um zu wissen, wo man anpacken muss, stellt sich zunächst die Frage, wo genau es schiefgelaufen ist.

Gründe und Konsequenzen der Enshittification

Rudern wir nochmal einen Schritt zurück zu dem Zeitpunkt, wo die Plattform nach Doctorow aufhört gut zu seinen Nutzer:innen zu sein:

Ein erstrebenswerter Plattformstatus lässt sich meist darauf zurückführen, dass Social Media in erster Linie gratis ist. Einnahmen erfolgen über Werbung und Nutzungsdaten. Umso mehr Nutzer:innen, desto attraktiver ist man als Werbepartner:in und desto mehr Daten sind verfügbar. Ziemlich basic, alle sind glücklich und zufrieden – hurra! 🎉

Ein kohärentes System, mit dem grundlegenden Fehler besagter Skalierbarkeit, denn natürlich wollen Plattformen wachsen. Erfolgt kein Wachstum, und sinken zusätzlich die Einnahmen aufgrund einer oszillierenden Wirtschaft, ergibt sich ein ziemlich offensichtliches Problem: Rote Zahlen. Etwas vereinfacht dargestellt, versteht sich.

Ein Problem, dem sich hierauf eingeführte Premium-Modelle widmen sollten: Die kostenpflichtige Alternative zur grundlegenden Prämisse. Erwähnt sei die alternative Lösung mehrerer kleiner Werbetreiber:innen, doch wie Gene Marks für The Guardian berichtete, ist dies begleitet von traurigen Ergebnissen, wo primär Bots mit dem eigenen Produkt interagieren. Ergo nicht lohnenswert für die Werbebetreibenden.

Ähnliche Methoden lassen sich übrigens auch bei Netflix, Amazon Prime Video und Co. aus ähnlichen Gründen beobachten, welche zwar keine Premium-Modelle anbieten (schließlich ist der hier angebotene Service auch nicht gratis), aber vermehrt auf Werbung setzen. Prime Video schaltet bereits Werbeunterbrechungen während des Streamings – begründet sei dies damit, hierdurch weiterhin „in überzeugenden Content zu investieren, für eine längere Zeitspanne“ – und Netflix setzt auf ein günstigeres Standard-Abo mit Werbung für, im Vergleich zu den anderen Optionen, günstige 5€. Eine, trotz Startschwierigkeiten, sehr beliebte Option bislang. Ziel dieses Abonnements sei ein neuer Pool an Abonnent:innen und paralleles Einkommen durch Werbetreibende.

Netflixs Co-CEO Greg Peters erklärt hierbei obendrein, Zielsetzung sei eine erhöhte Skalierung und ein Wechsel zu einem attraktiveren Werbeabo. Gelobt sei natürlich die Transparenz der Plattformen, ist man sich doch durchaus im Klaren, dass, wenn diese Maßnahmen nicht angemessen begründet werden, man mehr Impulse zur Kündigung als zur Service-Nutzung setzt. Maßnahmen, die obendrein ein notwendiges Übel sind, möchte man wettbewerbsfähig bleiben. Das Resultat verbleibt allerdings als schlechtere Nutzungserfahrung, als unattraktivere Plattform und nicht zu vergessen als Symptom der zuvor erwähnten Problematik begrenzter Skalierung. Auf einmal ist man dem eigentlich antiquierten Free TV wieder seltsam nahe.

Streaming Services befinden sich innerhalb dieses Problems in einer anderen Sparte als Social Media, denn diese produzieren tatsächliche Inhalte, während Social Media diesbezüglich in Abhängigkeit ihrer Nutzer:innen steht. Kein Tweet wurde bislang für einen Oscar nominiert. 🎬🏆 Streaming Services stellen somit einen grundlegenden Wert bereit, indem sie beispielsweise Zugang zu Filmen oder Serien bieten. Social Media tut sich hiermit schwerer. Der von den User:innen produzierte Content ist fundamental anders als beispielsweise ein neuer Film von Martin Scorsese – ein wirklich unfairer Vergleich, der jedoch eine Rolle spielt, wenn Content bekanntlich King ist.

Social Media steht somit vor dem großen Problem, einen Impuls zu setzen, der ausschlaggebend genug ist, für derartige Services tatsächlich zu zahlen. Ganz ohne implementierte Kulturgüter. Wie der direkte Vergleich zeigt, tun die Plattformen sich hiermit bislang schwer:

Werbefreie Nutzung ist womöglich hierbei das attraktivste Feature – wohlgemerkt in einem Internet, wo rund 40% aller Nutzer:innen einen Adblocker installiert haben. Ein unbefriedigendes Omen. Auch die Verifizierung hoffte man sich attraktiv, war diese doch seit jeher für die auserwählten Wenigen gedacht. Dass dieser Status sofort passé ist, sobald erwerblich, wurde dabei irgendwie missachtet. Vollkommen kann man den Nutzen natürlich nicht aberkennen, insbesondere für kleinere Unternehmen, kann Verifikation durchaus wichtig sein, die durchschnittlichen Nutzer:innen kommunizieren hiermit jedoch lediglich, für die auserwählte Plattform zu bezahlen, was vielleicht auch nicht für so cool wie erhofft wahrgenommen wird. Digitale Cosmetics gäbe es natürlich auch noch. Okay. Spannend für diejenigen, denen über 3.000 Emojis noch nicht reichen.

Es stellt sich die entsprechende Frage, ob das wirklich alles ist, was Social Media für seine Nutzer:innen bieten kann, neben dem überlebenswichtigen Gratis-Content. Das sind die Ideen vieler kluger Köpfe und digitaler Pioniere, Expert:innen auf ihrem Gebiet, die weitaus besser mit ihrer Materie vertraut sind als die meisten von uns – und wenn deren Ideen sich auf vergleichsweise schwache Features belaufen, dann lautet die Antwort eventuell einfach nein.

Oh weh.

Wir haben ein Problem

Im Zuge von alledem, ist Social Media weit entfernt von dem, was einen auf diesen Plattformen hielt. Die New York Times beschreibt hierbei folgende Auseinandersetzung:

Instead of seeing messages and photos from friends and relatives about their holidays or fancy dinners, users of Instagram, Facebook, TikTok, Twitter and Snapchat now often view professionalized content from brands, influencers and others that pay for placement.

Zizi Papacharissi, Professorin für Kommunikationswissenschaften an der University of Illinois-Chicago, gelangt entsprechend zu folgendem Fazit: „Platforms as we knew them are over. They have outlived their utility.“ Vielleicht kommt es also gar nicht auf die Features selbst an, welche verschiedene Premium-Modelle anbieten. Wenn die Plattformen Jahr für Jahr einfach weniger Wichtigkeit in unserem Leben annehmen, ist dies das größte Gegenargument zum Zahlservice, das man sich denken könnte.

Was aber wäre die Alternative? Wie gesagt bedeutet das eventuelle Ende verschiedener Plattformen schließlich nicht das Ende des Internets oder von Social Media im Allgemeinen. Expert:innen scheinen sich diesbezüglich größtenteils einig und die gute Nachricht lautet, wenn man vielleicht auch Abschied nehmen muss, dass die Zukunft von Social Media und Co. recht vielversprechend klingt, sobald sie nicht mehr synonym zu Big Tech steht.

One Network to Rule Them All?

Als Elon Musk neu-euphorisch das damalige Twitter aufkaufte, tat er sein Ideal dieser Plattform schnell kund: Eine kollektive, kybernetische Super-Intelligenz – demokratisiert, ganz ohne Lehnsherren und Vasallen, ein Schmelztiegel der Ideen.

Es ist erneut das Ideal, welches Barlow bereits bekanntgab: Der zentralisierte Marktplatz. Inwiefern Musk an diesem gescheitert ist, wäre nochmal ein Thema für sich, das man jetzt nicht anfangen muss. Wichtig ist lediglich die Hartnäckigkeit der Idee einer übergeordneten Plattform, ähnlich zum chinesischen Wechat. Eine Idee, mit welcher wir laut Ethen Zuckerman – Professor für Public Policy an der University of Massachussetts – endgültig abrechnen müssen; es handle sich um „Crazy Silicon Valley Logic“ und sei gar nicht erst erstrebenswert, genau deswegen aber wichtig zu erwähnen.

Hier ist, was laut Expert:innen wahrscheinlich passieren wird.

Die Zukunft von Social Media

Expert:innen und CEOs haben bereits Vorstellungen, in welche Richtung es gehen könnte. So schrieb Mark Zuckerberg 2019, der am schnellsten wachsende Sektor Facebooks seien verschiedene, kleine Communities, in welchen thematisch-hermetische Kommunikation erfolgt. Auch Jack Dorsey, ehemaliger Twitter-Gründer, spricht sich für eine Dezentralisierung von Social Media aus, welche den User:innen Content-Kontrolle ermöglicht, und ist deswegen mittlerweile hauptsächlich auf Nostr, eine hierauf basierende Plattform, anzufinden. Wie gesagt, nur Musk sieht das noch etwas anders, aber das ist ja nichts Neues.

Beobachten können wir aktuell zumindest eine gewisse Kulturwanderung des Internets – fort vom omnipräsenten Marktplatz der Online-Metropole, emigrieren wir in kleinere, dorfgleiche Digital Spaces, welche präziser unseren Interessen entsprechen. Beispielhaft denke man an sowas wie unseren personal favorite LinkedIn, was sich als Plattform insbesondere einer Thematik verschreibt und einen Diskurs wie Austausch hierzu ermöglicht. Natürlich ist auch die Rückkehr zu kleineren Nischen im Internet eine Regression zur MySpace-Ära des Internets, jedoch entschieden von den Nutzer:innen, nicht einer überstehenden Plattform, wie zuvor. Zurücksetzen und nochmal versuchen. Eine Idee, deren Potential man durchaus nicht unterschätzen sollte, wohlgemerkt. Die New York Times nennt hierzu beispielhaft:

One major benefit of small networks is that they create forums for specific communities, including people who are marginalized. Ahwaa, which was founded in 2011, is a social network for members of the L.G.B.T.Q. community in countries around the Persian Gulf where being gay is deemed illegal. Other small networks, like Letterboxd, an app for film enthusiasts to share their opinions on movies, are focused on special interests.

Das ist nicht nur kostengünstiger sowie -effizienter und ermöglicht eine Vielzahl kleinerer, veritabler Unternehmen, die ein in sich geschlossenes Geschäftsmodell anbieten können, auch der öffentliche Diskurs könnte hieraus profitieren. Die Grundidee eines großen, zentralisierten Ortes, an dem verschiedenste Ideen in Austausch miteinander geraten würden, klingt in der Theorie zwar großartig, recht schnell zeigte sich allerdings, dass unsere Gehirne hierzu nicht ausgelegt sind – gegebenenfalls die Plattformen selbst auch nicht. Keine substantiierte Diskussion ist je über 280 Zeichen bei Twitter entstanden. Auch Populismus, welcher auf zentralisierten Plattformen gut und gerne florieren kann, wie kürzlich erst Mai Thi Nguyen-Kim (auch bekannt als MaiLab) in ihrem diesbezüglichen Publicity Stunt darlegte, könnte hierdurch eingeschränkt sein. Das Internet hängt sich viel zu gerne an der Gurgel und es ist sicherlich nicht kontrovers zu sagen, dass das einfach nicht schön ist. Nicht selten wegen Banalitäten. Auch deswegen findet diese Emigration nachweislich statt.

In Stein gemeißelt ist das alles natürlich nicht. Die Plattformen, welche Big Tech bereitstellt, bieten allesamt ihre respektiven Vorteile, sonst würden wir gar nicht weiter auf diesen verweilen. Die Zeichen aus der Enshittification-Social-Media-Krise deuten allerdings in eine Richtung – und wenn für viele von uns die Online-Präsenz ein nennenswerter Teil des eigenen Lebens geworden ist, ist es natürlich wünschenswert, dieses mitzugestalten und als bereichernd zu empfinden.

Vielleicht wird sich diese Entwicklung noch herauszögern, vielleicht ist dieser Prozess bereits ins Rollen geraten. Zuletzt folgte zumindest die Mitteilung, Reddit würde nun an die Börse gehen. Das Internet durchlebt aktuell jedenfalls – auch im Zuge generativer KI, was nochmal einen Beitrag für sich wert wäre, hierbei aber wirklich den Rahmen sprengt – die spannendste Transformation seit den Tagen seiner digitalen Kultivierung.

Was denkt ihr? Ein Sturm, der wieder vorbeizieht oder wird Social Media sich in Zukunft maßgeblich verändern?

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