Wie Kulturpsychologie unser Webdesign beeinflusst

Das Internet hat sich über die Jahre grundlegend verändert. Musste man früher noch die Daumen drücken, den aktuellen Flash Player im Browser installiert zu haben, um von einer Kakofonie übersättigter GIFs und ausgefallener Schriftarten begrüßt zu werden, hat sich mittlerweile ein minimalistisches Webdesign etabliert. Klare Farben, wenige Kolumnen, die wichtigsten Informationen und ein ausgewähltes Bild als Mittelpunkt dominieren aktuelle Webpages, gemäß einer bedachten Distanz zur Reizüberflutung. Zumindest In Ländern mit westlich geprägter Kultur.

Ein Blick zum Osten – in Richtung von China, Japan und Südkorea insbesondere – verspricht hierbei ein ganz anderes Bild. Internetseiten, die weitaus voller sind, für unser Verständnis vielleicht sogar überladen: Eine förmliche Explosion an Farben und Icons; Produktanzeigen, welche mit schillernden, digitalen Goldmedaillen kommemoriert werden und ganz grundsätzlich scheint dieses Design eher dem zu entsprechen, was wir aus den wöchentlichen Supermarktprospekten kennen. Woran liegt das, muss man sich hierbei unweigerlich fragen, denn Rückständigkeit wird nicht der Grund sein, gilt China doch als Musterbeispiel der Digitalisierung und Japan (in vielen Belangen) als technologische Hochkultur. Die Antwort ist also viel komplexer als östliche Websites als verlorengeglaubtes Relikt eines einstigen Internets darzustellen.  

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Wir haben dementsprechend einen Blick darauf geworfen, warum Webdesign dermaßen variiert und inwiefern es Ausdruck einer Kulturpsychologie sein könnte. Nicht nur, um die eigene, kulturelle Brille austauschen zu können, sondern auch mit Blick, inwieweit ein Verständnis dieser Unterschiede multinationale Organisation fördert und den Zugang zu weiteren Zielgruppen erleichtert.

Design und Schriftsysteme

Angefangen mit den Basics: Es ist unmöglich, die Designunterschiede zwischen Osten und Westen auf ein singuläres Merkmal zu reduzieren. Vielmehr begegnet einem hierbei ein ganzheitliches Zusammenspiel verschiedener kleiner Faktoren, wovon manche recht offensichtlich, andere jedoch versteckter sind. Ganz offensichtlich ist hierbei etwa der Unterschied zwischen westlichen und östlichen Schriftsystemen. Japan, China und Südkorea nutzen allesamt logografische Schriftsysteme: Ein System, in dem sprachliche Ausdrücke durch Zeichen dargestellt werden, statt den hiesig genutzten Buchstaben. Wenn ein westliches Publikum östliches Webdesign für überladen empfindet, muss man selbstredend gestehen, dass das auch dem Unverständnis von Logografie geschuldet ist. Das erstreckt sich auch in die Typografie: Ein grundlegender Bestandteil dieser sind sogenannte Glyphen, also verschiedene Repräsentationen eines Buchstabens; A – a – a sind beispielsweise allesamt verschiedene Glyphen. Wenn man nun bedenkt, dass unser alphabetisches Schriftsystem etwa 4.000 Glyphen besitzt, ein logografisches jedoch ca. 70.000, ist es verständlich, dass das etwas viel für die westliche Wahrnehmung sein könnte. Eine Limitation, die im Weiteren weniger Schriftarten mit sich bringt und sich selbstredend ebenfalls aufs Webdesign auswirkt.

Ein grundlegender Kulturunterschied?

Ein Argument, das häufig bei unserer Recherche aufkam, lautete: ein Blick nach beispielsweise Shibuya würde bereits Einsicht geben, warum das östliche Internet derart barock ist. Dort, wo grelle Neonreklamen und ständig changierende Werbeanzeigen – irgendwo zwischen Menschenmassen und Karosseriechaos – den tumultuösen Bezirk Tokios ausmachen. Da ist es doch kein Wunder, dass sich das auch aufs Internet überträgt, heißt es dann. Eine natürlich recht haltlose Beobachtung, wie sicherlich jede:r weiß, der/die bereits ein Ründchen beim Times Square, Piccadilly Circus oder auch der Reeperbahn gedreht hat. Das kann es ergo eigentlich nicht sein, doch driftet es knapp an einem anderen Kulturunterschied vorbei, nämlich dem der allgemeinen Informationsdarstellung (wozu wir gleich kommen).

Auch Hardware könnte hierbei eine wichtige Rolle spielen. Zumindest in Japan, wenn auch nicht Ostasien allgemein, sind Websites weiterhin viel für PC’s statt Smartphones ausgelegt und auch mit älteren Personen im Hinterkopf konzipiert. Japan ist in diesem Fall allerdings ohnehin ein Sonderfall, erfolgte die dortige Smartphone-Revolution etwa 10 Jahre vorm Rest der Welt, allerdings auch mit unterschiedlichen Modellen, die sich sehr langwierig hielten. Passten wir hier unser Internet also auf das coole, neue, heiße iPhone an, setzte Japan diesen Schritt einfach aus. War halt nicht nötig. Respektabel.

Ganz stumpf muss jedoch festgestellt werden, dass Menschen im Osten generell informationsreichere Produktanzeigen bevorzugen und mehr Angaben einfordern, bevor etwas tatsächlich erworben wird, während im Westen höher bewertet wird, wie das Produkt einen fühlen lässt oder inwieweit es das eigene Leben verbessert. Kulturwissenschaftlich ist das längst verifiziert. Das manifestiert sich natürlich auch im respektiven Webdesign. Ein gutes Beispiel hierfür wären etwa die in Japan gängigen Shokuhin-Sanpuru: Vor Restaurants befindliche Essensimitationen aus Plastik oder Wachs, welche das Menu der Gastronomie darstellen, damit Kund:innen eine informierte Auswahl treffen können. Man denke gegenteilig an ausgestellte Fast-Food-Reklamen, welche eine sehr idealisierte Version des 2€-Burgers aufzeigen, ganz konträr zu dem labbrigen Endresultat, das man dann tatsächlich ausgehändigt bekommt. Das ästhetische Element stellt hierbei ebenfalls einen Kulturunterschied dar, wie Douglass McGowan bemerkt. Im Japanischen ist ein nennenswerter Terminus hierfür namens „yokubari“ gegeben – im Deutschen so viel wie „Gier“, jedoch ohne jedwedes Stigma; ein neutraler Begriff zum diesbezüglichen Informationsdurst. Minimales Webdesign wie im Westen mag in diesem Kontext ästhetisch zwar ansprechend wirken, würde dennoch aber Misstrauen erwecken, da man nicht yokubaru (Verbform von yokubari) betreiben kann. Produktqualität und Betriebskompetenz würden unter minimalem Design in Frage gestellt. Das ergibt selbstredend nicht nur Unterschiede im Marketing, sondern indiziert genauso, dass in östlicher Kultur Information nicht versteckt werden sollte. Für Personen des Westens könnte das natürlich verwirrend sein, denn ganz plump gesagt: Wer hat dafür schon Zeit?

Holistisches und analytisches Denken

Das ist tatsächlich die falsche Frage. Passender wäre, ob man im Westen diesbezüglich zu langsam ist! Denn genau das scheint der Fall zu sein…mehr oder minder. Zumindest haben verschiedene Studien einen prägnanten Unterschied im östlichen sowie westlichen Denkverhalten untersucht, der ebenso erklärt, inwiefern Webdesign sich kulturpsychologisch unterscheidet. Gemeint ist hierbei ein holistisches und ein analytisches Denken. Kognitionsmuster, die unsere eigene Informationsverarbeitung darlegen und gleichermaßen ihren kulturellen Hintergrund, nämlich wie folgt:

  • Analytisches Denken: Separatistisches, objektorientiertes Denkmuster, bei dem der Kontext, in welchem Gegenstände zueinanderstehen, weniger gewichtet wird. Kulturell geht dies zurück auf die griechische Philosophie der Antike, in welcher die individuellen Charakteristiken verschiedener Objekte als Unikum betont wurden.
  • Holistisches Denken: Also…quasi das Gegenteil. Kontextbasiertes Denken, bei dem die Objekte in einer Interrelation miteinander stehen und somit unlöslich verbunden sind. Eine Denkweise, die wiederum auf antike chinesische Philosophie zurückgeht, welche eben diese Ansicht betonte.

So weit, so logisch. Etwas praktischer dargestellt, würde dies etwa bedeuten, dass im Fall eines Küchentisches beispielsweise westliche Personen eher die Beschaffenheit von diesem hervorheben würden – Material, Aussehen, Verarbeitung etc. –, während östliche Personen vielmehr eine Gesamtdarstellung beschreiben würden, zum Beispiel als sozialen Sammelort zum Essen, häufig in Konjunktion mit Stühlen und Geschirr. Es versteht sich demnach hoffentlich, dass keine dieser Denkarten explizit besser ist, sondern lediglich unterschiedlich. Eine Studie im Personality and Social Psychology Journal stellte die These auf, dass Produktbewerbung im asiatischen Raum aufgrund des holistischen Denkens informationsdichter sei, und überprüfte dies praktischerweise auch am Beispiel von Webdesign:

Given previous findings, we assume that in general, visual cultural products of East Asians will be information rich. Instead of clearly differentiating between focal/content and peripheral/contextual pieces of information, the holistic orientation embraces the idea that everything is equally important and embedded in the whole context. East Asians will thus find it difficult to separate target information from peripheral information, and to separate details from the main message. In contrast, North Americans’ analytic orientation makes their cultural products simpler and more organized, so that they selectively focus on salient, vivid, and core information while ignoring overly contextual or detailed information. The message of analytic thought embraces the idea that each object and person is self-contained and independent.

Diese Studie bestätigt Annahmen, die auch mit den Ergebnissen einer weiteren Untersuchung im Personality and Social Psychology Bulletin übereinstimmen. In dieser wurde die visuelle Wahrnehmung analysiert, wobei festgestellt wurde, dass westliche Personen detailorientierter beobachten, während östliche Menschen ein umfassenderes Gesamtbild wahrnehmen. Spannend zu erwähnen ist hierbei auch eine Studie im Journal of Cross-Cultural Psychology, das untersuchte, inwieweit sich kulturpsychologisches Denken ästhetisch manifestiert. So wurden verschiedene Landmalereien, Fotografien und auch Websites untersucht. Im Falle von Malereien ließ sich etwa attestieren, dass ostasiatische Werke die Horizontlinie tendenziell höher setzen, wodurch zwar Tiefenschärfe verloren geht, jedoch mehr kontextuelle Information präsentiert wird; westliche Künstler:innen handhabten dies andersrum.  

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Ostasiatische Kunstwerke stellen tendenziell ein erhöhtes Maß an kontextueller Information dar.

 Mehr als das: In einem weiteren Test wurden ostasiatische sowie amerikanische, studentische Amateur:innen beauftragt ein Landschaftsgemälde zu erstellen, wo sich eben diese künstlerischen Neigungen erneut feststellen ließen. Die Horizontlinie wurde bei ostasiatischen Student:innen generell höher platziert und mit mehr kontextuellen Informationen gesättigt. Das Fazit lautet ergo, dass Kulturpsychologie direkt mit Kulturprodukten und Kunstwerken korrelieren, wozu auch Webdesign, Werbung und dergleichen zählt. Unerwartet? Schon. Spannend? Aber hallo.

Die Gründe für unterschiedliche Online-Gestaltung lassen sich abschließend nicht auf ein einziges Attribut reduzieren, sondern sind auf mannigfaltige, kulturelle Beweggründe zurückzuführen. Feststeht: Webdesign muss sich in seiner Identität gar nicht erst rechtfertigen, denn wie mittlerweile klar sein sollte, ist es Ausdruck einer kollektiven Mentalität, die man auch anerkennen sollte, wenn es das eigene, ästhetische Feingefühl irritiert. Alles andere wäre auch langweilig. Man geht bekanntlich mit der Zielgruppe. 😉 Und wie so häufig: Vielleicht lassen sich in diesen Unterschieden auch Inspirationen oder gemeinsame Nominatoren für das Design der Zukunft finden, wie kultureller Austausch es glücklicherweise so häufig bedingt.

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